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Das Magazin N°34 – 27. August 2016
Noch bevor László Polgár seine spätere Frau kennenlernte, wusste er, dass er seine Kinder zu Genies heranziehen würde. Er sass auch schon an einem Buch zu diesem Thema. Er hatte sich alles ganz genau zurechtgelegt.
Als er 1965 mit Klára, seiner künftigen Braut, in Budapest zum ersten Mal ausging, erzählte er ihr, wie er sich die Erziehung seiner Kinder vorstellte. Er hatte das Leben verschiedener Genies studiert und war dabei auf eine Gemeinsamkeit gestossen: Alle hatten Eltern, die ihr ganzes Leben einzig dem Erfolg ihrer Kinder widmen. Polgár nahm sich vor, seine Kinder zu Hause zu unterrichten und sich auf ein einziges Gebiet zu konzentrieren, auch wenn er noch nicht wusste, welches. «Jedes gesunde Kind ist ein potenzielles Genie», sagte er oft. Genetische Anlagen und fehlendes Talent seien kein Hindernis. Und er würde mit viel Liebe vorgehen.
2015, fünfzig Jahre nachdem der Vater sein Experiment startete, traf ich Susan Polgár, eine von Lászlós Töchtern, in einem Vorort von St. Louis. Sie war die erste Frau in der Schachgeschichte, die den Titel eines Grossmeisters errang. Susan Polgár hat das Schachteam der Webster University zu mehreren nationalen Titeln in Folge geführt. Zurzeit waren gerade Semesterferien, in den nächsten Tagen würde sich die Schachmannschaft der Universität auf ein Turnier in New York vorbereiten, um den Titel zu verteidigen.
Die Studenten, in blau-gelben Anoraks und Polohemden, beugten sich über ein Schachbrett. Begonnen hatten sie mit der Königsindischen Verteidigung, das war vertrautes Terrain, und nun steckten sie mitten in der Partie. Polgár sass ein wenig abseits und schaute auf einen Laptop, auf dem das Spiel übertragen wurde. «Wie sieht der nächste Zug aus?», fragte sie. «Denkt nach, lasst euch was Gutes einfallen!» Es folgte ein lebhaftes Stimmengewirr in den unterschiedlichsten Akzenten, welche die Herkunft der Studenten verrieten – Ukraine, Aserbeidschan, Kolumbien, Brasilien, Kuba, Vietnam, Ungarn. «Kein Mensch denkt sich so was aus», sagte ein Student. «Das ist Magie», sagte ein anderer.
Längst haben Schachcomputer den Menschen überholt. Sie sind eine grosse Hilfe beim Training, aber die empfohlenen Züge könnten manchmal irritieren, sagten die Studenten. «Nein, es ist sehr vernünftig», entgegnete Polgár. Die Studenten, die meisten von ihnen Grossmeister, beruhigten sich wieder, prüften die mehr als hunderttausend Möglichkeiten, die ihnen mit den Jahren in Fleisch und Blut übergegangen sind, erwogen mögliche Züge und die daraus sich ergebenden Probleme – um schliesslich eine Entscheidung zu treffen. Genau das ist ja der Kern beim Schach: Mit jedem Zug präsentiert sich eine neue Situation, die man neu bedenken muss.
«Läufer g4?»
«Genau, Läufer g4», sagte Polgár.
«Kein Mensch macht so einen Zug!»
«Doch», sagte Polgár, «es ist sogar ein ganz wunderbarer Zug.» Die Strategie ähnelte derjenigen, die sie einmal in einer Partie gegen ihre Schwester angewendet hatte. «Ich habe Judit auf diese Weise geschlagen.»
Die Studenten murmelten respektvoll. Susan Polgár mag die erste Frau sein, die den Titel eines Grossmeisters errang, aber ihre jüngere Schwester Judit ist die beste Schachspielerin aller Zeiten.
Die drei Polgár-Schwestern Zsuzsa (Susan), Zsófia (Sofia) und Judit, allesamt Schachwunderkinder, sind in Budapest gross geworden, als Ungarn noch kommunistisch war. Sie wuchsen in einfachen Verhältnissen auf, der Ausflug zum Schreibwarenladen war ein Ereignis. László und Klára unterrichteten die Töchter zu Hause, gegen den Widerstand der Behörden. Schach war ihr Leben, acht Stunden wurde täglich geübt. Ende der Achtzigerjahre waren die Polgárs bereits ein Phänomen, wohlhabend, Stars, die international Schlagzeilen machten.
Malcolm Gladwells Zehntausend-Stunden-Regel Streng genommen war es natürlich kein wissenschaftlicher Versuch, das wusste der Polgár-Vater, denn es gab keine Kontrolle. Dennoch wurden die Leben seiner Töchter zu Musterbeispielen in einer Debatte, die seit hundert Jahren unter Sozialwissenschaftlern geführt wird: Ist Erfolg das Ergebnis -genetischer Zufälle oder gezielter Erziehung? Ist Talent angeboren oder erworben?
In jüngster Zeit dreht sich die Debatte um die These von K. Anders Ericsson, einem Psychologen an der Florida State University, wonach intensives Üben die wichtigste Variable bei Erfolg ist. Die Polgárs, könnte man meinen, liefern die Bestätigung.
2008 wurde Ericssons These durch den Journalisten Malcolm Gladwell populär gemacht, der in seinem Bestseller «Outliers» die Zehntausend-Stunden-Regel als mythische Schwelle zum Erfolg bezeichnete: Wenn wir etwas zehntausend Stunden lang geübt haben, beherrschen wir es. Diese Zahl ist inzwischen Allgemeingut. Immer redet irgendjemand von seinen «zehntausend Stunden», die er etwa als Musiker geübt hat. Oder von den zehntausend Stunden auf dem Tennisplatz, dem Fussballfeld oder am Herd.
Gladwells populäres Buch wurde aber auch kritisiert. Eine Gegenbewegung von Wissenschaftlern betonte, dass Vererbung und andere Faktoren genauso wichtig seien wie Übung – nachzulesen beispielsweise in David Epsteins Buch «The Sports Gene». Klar, dass diese Debatte auch ideologisch geführt wird.
In einer Welt, in der mit Spitzenleistungen das grosse Geld zu verdienen ist, verkünden Studien, die das Üben herausstreichen, eine urdemokratische Botschaft. Sie sind gewissermassen die wissenschaftliche Formulierung des American Dreams, der Vorstellung also, dass jeder seines Glückes Schmied ist. Und die Polgárs verkörpern wie kaum jemand sonst genau diese Hoffnung.
Susan Polgár ist jedenfalls sofort bereit, das Paradebeispiel zu geben – wenn ihr Leben irgendetwas beweist, dann die Tatsache, dass «Erziehung viel wichtiger ist als Vererbung». Die Wand ihres Büros ist mit Titelblättern von Zeitschriften und Siegerurkunden gepflastert, eine Schwarz-Weiss-Fotografie von 1989 zeigt die Schwestern mit dem damaligen US-Präsidenten George Bush und seiner Frau Barbara. Sie sehe es an ihren Studenten, sagt Susan. Die Besten haben Talent und üben wie die Verrückten. Faulheit lässt sich nicht durch Talent wettmachen – wer mehr übt, hat am Ende die Nase vorn.
Susan hat sich nie Faulheit vorwerfen lassen müssen. Von St. Louis aus kontrolliert sie ein kleines Schachimperium: Bücher, Websites und natürlich ihr Schachteam. Wenn sie mit der Presse spricht, was sie schon fast ihr ganzes Leben lang macht, redet sie wie eine Politikerin – vorsichtig, ihre Worte abwägend. Die Webster University warb sie und einige ihrer Studenten von der Texas Tech University ab, wo sie zwei nationale Titel in Folge gewonnen hatte. Der Wechsel an die Webster war nicht unumstritten. Beides sind kleine Colleges, die erkannt haben, dass sie mittels Stipendien für Schachspieler, darunter viele ausländische Studenten, ihr akademisches Prestige für relativ wenig Geld steigern können. Mit ihrer Prominenz und ihrem Einfluss ist Susan geradezu ein Werbemagnet. Ihre Studenten sind oft bessere Schachspieler als sie selbst, drei haben sogar Judit überholt. Dennoch herrscht ein ausgeprägter Teamgeist. Alle gehen gemeinsam ins Fitnessstudio, sie sind Polgár-Jünger.
«Leben und Schach haben gewisse Ähnlichkeiten», sagte André Diamant, ein brasilianischer Student und dienstältestes Teammitglied, während einer Pause. «Schachspieler wissen, dass sie lernen müssen, dass sie arbeiten müssen, dass sie besser werden müssen. So ist das nun mal. Und im Leben ist es genauso.»
Den Wert harter Arbeit bestreitet niemand ernsthaft. Und doch muss eine simple Frage erlaubt bleiben: Warum war Judit eine so viel bessere Schachspielerin als Susan, obwohl die beiden doch eine ganz ähnliche Kindheit hatten?
Schach ist ein hochkomplexes Spiel, das man, wie viele Berufe, erst nach Jahren richtig beherrscht. Traditionell wird jeder Spielzug dokumentiert. Heutige Grossmeister ziehen eine ganze digitale Cloud ihrer Partien hinter sich her. Und vor allem gibt es für alle Schachspieler ein Wertungssystem, sodass man ihre Entwicklung präzise nachverfolgen kann. Ende der 1980er hatten Wissenschaftler herausgefunden, dass Schachspieler mit zunehmendem Können auch nicht mehr Züge vorausdenken. Vielmehr gewinnen sie Erfahrung, indem sie Muster auf dem Brett erkennen und welche Muster sich daraus ergeben. Bleibt die Frage: Wie erwerben sie diese Meisterschaft?
Der Psychologe K. Anders Ericsson hatte gezeigt, dass man sich, mit entsprechendem Gedächtnistraining, mehr als hundert aufeinanderfolgende Ziffern merken kann. Das brachte ihn zu der Überlegung, dass Erfolg zwar oft angeborenem Talent zugeschrieben wird (vor allem Intelligenz, wie auch immer definiert), ständiges Üben womöglich aber viel wichtiger ist. Vor allem beim Schach geht es – selbst bei Wunderkindern – nicht ohne jahrelanges Training. Namhafte Wissenschaftler sprechen sogar von der «Zehn-Jahre-Regel», ohne die kein Grossmeister auskomme.
Aber wie sollte man das beweisen? Als sich Ericsson die Gelegenheit bot, eine Studie mit Violinstudenten der Musikhochschule in Westberlin zu machen, zeigte sich, dass die besten Studenten im Durchschnitt mehrere Tausend Stunden länger geübt hatten als die Nächstbesten. Bei den Pianisten war es ähnlich. Die Besten hatten durchschnittlich etwa zehntausend Stunden geübt. Auch bei Schachspielern stiessen die Wissenschaftler auf vergleichbare Zahlen.
Bei dieser Studie ging es nicht nur um absolute Spitzenleistungen. Aber wenn wir uns die Besten anschauen, sagten sich die Forscher, verstehen wir auch alle anderen.
1994 fassten Ericsson und sein Mitarbeiter Neil Charness ihre Erkenntnisse in einem aufsehenerregenden Artikel zusammen. «Unterricht im frühesten Kindesalter und maximale elterliche Förderung spielen offenbar eine viel wichtigere Rolle als angeborenes Talent», heisst es da. Und weiter: «Es gibt viele Beispiele von Überfliegern, deren Eltern ihnen ein optimales Umfeld boten und nicht davon ausgingen, dass das Talent ihrer Kinder schon ausreiche.»
Als konkretes Beispiel nannten sie die Polgárs.
Susan erzählt, dass sie als Dreijährige von selbst auf die Idee mit dem Schachspielen kam. In der engen Budapester Wohnung öffnete sie einmal eine Schublade und entdeckte darin ein Schachspiel. «Komm, wir spielen!», sagte sie zu ihrer Mutter, die aber nicht Schach spielen konnte. «Warte, bis Papa nach Hause kommt», sagte die. László freute sich über Susans Interesse. Er war kein Schachexperte, aber hier bot sich die Chance für sein Experiment – die Sache kostete nichts, und es ging nur um die Denkfähigkeit. Es spielte also keine Rolle, ob das Kind ein Junge oder ein Mädchen, gross oder klein war. Ausserdem wurde der Schachsport derart von Männern dominiert, dass eine talentierte junge Frau womöglich auf grosses Interesse stossen würde.
Wunderkinder mögen Schach
Diese Story gefällt der Familie, die lange Zeit von dem Verdacht geplagt wurde, dass die Mädchen keine aáándere Wahl hatten. Sofia, die Mittlere, die inzwischen in Israel lebt, stellt die Geschichte ein wenig komplizierter dar. Ihr Vater, sagt sie, habe immer nur Schach im Kopf gehabt. Er habe dafür gesorgt, dass Susan Mathematik lernte, aber als sie ein Spezialgebiet wählen musste, ermunterte er sie, sich für Schach zu entscheiden. Nicht zuletzt das Rankingsystem sprach dafür. Man würde das Experiment leichter bewerten können.
Wie auch immer, Susan fand allmählich Gefallen am Schach, wie die meisten Wunderkinder. Sie machte sich mit den Figuren vertraut – dem lauernden Springer, dem Läufer und seinen Bewegungen – und spielte gegen ihren Vater. Mit vier Jahren hatte sie einen Tutor und war Mitglied in einem Club. Mit fünf nahm sie an einer Kinder-Stadtmeisterschaft für Mädchen teil. Sie schlug Teilnehmerinnen, die doppelt so alt waren. Die Polgárs waren am Ziel.
«Das hat meinem Leben eine bestimmte Richtung gegeben», sagt Susan. Es ging voran. «Harte Arbeit bringt Resultate, Resultate steigern die Motivation, und wenn man motiviert ist, macht das Arbeiten mehr Spass. Je mehr man arbeitet, desto mehr Resultate hat man. Für mich begann dieser schöne Kreislauf von Erfolg, Motivation und Arbeit.»
Ganz so einfach war es natürlich nicht. Die Behörden untersagten den Polgárs, ihre Kinder zu Hause zu unterrichten, und drohten damit, sie in ein Heim zu stecken. Mutter Klára verlor unter mysteriösen Bedingungen ihren Arbeitsplatz. Jahrelang bekamen sie keinen Pass für Auslandsreisen, selbst nachdem Susan 1984 zur besten Spielerin der Welt aufgestiegen war, wohl auch deswegen, weil sie an Männerturnieren teilnahmen und nicht bloss gegen weibliche Konkurrenz antraten. (Man befürchtete auch, dass sie in den Westen fliehen würden.) Die Familie entwickelte sich zu einem Unternehmen, das sich aus Susans Startgeldern und Siegprämien finanzierte.
Es lag nahe, dass Sofia und Judit dem Vorbild ihrer Schwester folgten (die Eltern hatten überlegt, Judit, falls sie ein Junge gewesen wäre, den Namen Zséni – «Genie»- zu geben). Die Jüngeren, die der Ältesten heimlich beim Spielen zusahen, wollten nicht ausgeschlossen sein. Sie wollten ebenfalls Schach spielen. Da es für László ohne körperliche auch keine geistige Fitness gab, spielten die Mädels täglich mehrere Stunden Tischtennis – neben dem Schach und ihrem Schulunterricht. Die Eltern waren unermüdlich in ihrem Engagement, besorgten jedes Schachbuch, schnitten Schachkolumnen aus, die sie auf Karteikarten klebten und in einem Zettelkasten sammelten. Über hunderttausend Spiele trugen sie zusammen.
Viele Skeptiker, kaum Freunde
Es war keine normale Kindheit, das wussten die Mädchen – aber welche Familie versteht man schon von aussen? «Wir wussten, dass die Leute skeptisch waren in Bezug auf unsere Erziehung», sagt Judit. «Sie sahen uns komisch an.» Die Mädchen hatten kaum Freunde. Häufig kamen Schachmeister vorbei, um zu sehen, wie sich «die Kleinen» machten. Susan kümmerte sich um die beiden Jüngeren. Es war ein glückliches Zuhause. «Eine liebevolle, herzliche Atmosphäre.» Manchmal sang ihnen die Mutter ihr liebstes Gutenachtlied vor: «Hundert Wege könnt ihr gehen», hiess es darin. «Hundert Pfade könnt ihr gehen. Alles ist möglich.»
Spätestens 1988 war klar, dass Judit es zu Erfolg bringen würde. Sie war wagemutig, attackierte unerschrocken. Susan war vorsichtiger, und Sofia, ebenfalls draufgängerisch, liess sich von ihrem Interesse für Kunst und Design ablenken. 1988 gewann Judit als erste Spielerin die Jugendweltmeisterschaft in der Altersklasse U12. Monate später stellten die drei Mädchen drei Viertel des ungarischen Teams bei der Frauenschacholympiade – «Polgáría» nannten sie die Leute. Judit gewann zwölf von dreizehn Partien. Sie war auf dem Weg an die internationale Spitze. Die Mädchen kehrten als Helden nach Budapest zurück. Leute sprachen sie auf der Strasse an. László hatte offenbar den Schlüssel zum Erfolg entdeckt.
«Alle haben gesagt: Also, euer Papa ist kein Verrückter oder so ein Spinner, der das Leben seiner Kinder ruinieren will», sagt Sofia. «Was er macht, ist wirklich etwas Besonderes.»
László konnte sogar sein Buch herausbringen. Der Titel? «Genie ist erlernbar».
Müssen alle gleich viel üben?
Vor allem dank des polgárschen Beispiels setzte sich Ericssons Theorie von der überragenden Bedeutung des gezielten Übens allgemein durch. Einige Wissenschaftler waren jedoch nicht überzeugt. Ein Zweig der Psychologie konzentriert sich mehr auf die Frage, warum die Menschen unterschiedlich sind, und nicht darauf, warum wir gleich sind. Wer sich mit der letzteren Frage beschäftigt, betrachtet individuelle Abweichungen als experimentelles Rauschen. Die anderen sehen Unterschiede, die erklärt werden müssen. Nehmt nur Schach, sagen sie.
Vor zehn Jahren führte Guillermo Campitelli – ein Doktorand, der mit Fernand Gobet zusammenarbeitet, dem Schweizer Psychologen und führenden internationalen Schachwissenschaftler – eine Studie mit argentinischen Schachspielern durch. Dabei stiessen sie auf eine bemerkenswerte Variante: Ein Spieler kam nach 3000 Stunden auf Meisterniveau, ein anderer brauchte 23 000 Stunden, und manche erreichten dieses Niveau überhaupt nicht, obwohl sie mehr als 25 000 Stunden investiert hatten. Wer Erfolg haben will, muss üben – so viel war klar. Aber selbst intensives Üben bietet offenbar nicht die Garantie, dass man es bis an die Spitze schafft.
Gobet sagt, es sei schwierig gewesen, diese Studie zu veröffentlichen. Die meisten Gutachter seien Anhänger des ericssonschen Modells und hätten versucht, die Studie mit oberflächlichen Einwänden zu verhindern. Er und Campitelli hätten die Arbeit überall angeboten. «Keiner wollte die Botschaft hören», sagt Gobet. Selbst als die Studie 2007 schliesslich erschien, wurde sie weitgehend ignoriert.
Doch nach dem Erfolg von «Outliers» wurde die Forschung aufmerksam. Man hörte Geschichten von Menschen, die, inspiriert von Gladwells Bestseller, ihr Leben nach dem polgárschen Modell gestalteten, in der Erwartung, dass sie sich auf ihrem Gebiet eines Tages einen Namen als «Genie» machen würden. (Besonders eindrucksvolles Beispiel: Ein dreissigjähriger Fotograf gab seinen Job auf, um zehntausend Stunden Golf zu üben, das er zuvor kaum gespielt hatte. Man kann seine Entwicklung online verfolgen.) Für diese Wissenschaftler war es besonders ärgerlich, dass Ericsson offenbar jede angeborene Intelligenz oder genetische Veranlagung als Erfolgsfaktor ausschloss, ausgenommen Sonderfälle wie etwa Körpergrösse bei Basketballspielern.
Die meisten Wissenschaftler wandten sich gegen Ericssons Auffassung, wonach es entscheidend auf Erziehung ankommt, sagt Scott Barry Kaufman, Psychologe an der University of Pennsylvania. «Wer, wie die meisten Wissenschaftler, seine Identität am IQ festmacht, unterstreicht die Bedeutung der genetischen Anlagen, denn so kann man sich überlegen fühlen.»
In den letzten Jahren ist eine Reihe von Studien erschienen (oft aktualisierte Analysen älterer Untersuchungen), die das Übungsmodell empirisch widerlegen sollen. Die Autoren einer Studie kamen zu der Erkenntnis, dass Erfolg nur zu einem Drittel auf gezieltem Üben beruhe – also eine Einschränkung der ericssonschen These, dass Erfolg «weit-gehend» durch Üben zu erklären sei, letztlich aber keine so grosse Einschränkung. Ericsson hat dazu ein weiteres Buch geschrieben: «Peak. Secrets From the New Science of Expertise» ist im Frühjahr erschienen.
Einen wichtigen Erfolgsfaktor hat Ericsson aber zweifellos herausgearbeitet: Feedback. «Man kann sich gar nicht vorstellen, wie man ohne Feedback vorankommen soll», sagt er. Feedback ist selten. Das Leben ist kein Schachspiel. In den meisten Alltagssituationen bekommen wir nicht sofort irgendeine Art Rückmeldung. Wir machen immer wieder denselben Fehler. Nehmen wir nur die Medizin, für die Ericsson seine Erkenntnisse nutzbar machen will. Viele Ärzte stellen eine Diagnose und sehen den betreffenden Patienten dann niemals wieder. Sie erfahren nicht, ob ihre Behandlung zu dem gewünschten Erfolg geführt hat. «Wie soll man denn aus einer solchen Situation lernen?»
Die Sache ist nicht eindeutig. «Ich glaube tatsächlich, dass es unterschiedliche Talente gibt», sagt Gobet. «Aber es ist nicht einfach Talent plus Üben.» Andere Erklärungen? Genau wie beim Sprachenerwerb deutet einiges darauf hin, dass frühes Lernen nützlich ist. Andere Faktoren sind Gedächtnis, Intelligenz und Zielstrebigkeit – alles Elemente, die durch Veranlagung und Erziehung beeinflusst werden können. Einer von Gobets Studenten hat bislang noch nicht publizierte Daten zusammengetragen, die darauf hindeuten, dass der IQ der wichtigste Faktor für frühen Erfolg im Schach ist, der dann im Laufe der Jahre durch Üben ersetzt wird.
Und solange es nicht weitere Belege für diese anderen Faktoren gibt, sollte man das Üben nicht abtun. «Es ist unredlich, die Botschaft zu verkünden, dass man überdurchschnittlich intelligent sein muss, um Erfolg zu haben», sagt Ericsson.
Gobet vertritt ebenfalls diese Ansicht. Viele Leute beriefen sich auf die Zufälle der Geburt und übersähen, wie viel sie durch eigene Anstrengung auf jedem Gebiet erreichen können. Wie viele Menschen sagen: Mathe liegt mir nicht. Seine Sorge ist einfach, dass einige Eltern die falsche Lehre aus dem Fall Polgár ziehen. Intensives Üben und früher Beginn seien nicht schlecht, aber man geht natürlich trotzdem ein Risiko ein. Für jede Polgár-Tochter gibt es unzählige Schachspieler, die völlig unbekannt sind.
Gobet, früher einer der besten Schweizer Schachspieler (er hat zweimal gegen Judit gespielt), weiss, wovon er spricht. «Ich kenne Leute, die es genau wie die Polgárs gemacht haben», sagt er. «Aber die meisten sind gescheitert.»
Das Schachteam der Webster University kam mit einem ganz konkreten Ziel nach New York. Susans Schützlinge hatten die letzten vier Turniere gewonnen, und auch in diesem Jahr galt ihr Team (das einzige, das ausschliesslich aus Grossmeistern bestand) als Favorit. Monatelang hatten die Spieler trainiert, sich überlegt, wie man am besten auf die Eröffnungen reagieren könnte, die vom Team der University of Texas, ihrem Topgegner, besonders gern praktiziert werden. Sie spielten gegeneinander, gegen den Computer, entwickelten neue Spielzüge, mit denen sie dem Gegner vielleicht beikommen konnten, indem sie kostbare Zeit einsparten. Es war ein ganz anderes Üben als bei den Polgárs. Anders als heute waren Informationen und gute Trainer früher Mangelware. Und die besten Spieler sind jene, die die sinnvollsten Daten herausfiltern und der Versuchung widerstehen, sich einem bestimmten Programm anzuvertrauen.
Wie auch immer, in New York beherrschte das Webster-Team die Szene, erreichte fast die doppelte Punktzahl des Zweitplatzierten. Manche Leute in der Schachwelt haben ihre Zweifel, wie Susan die Fähigkeiten so ausgezeichneter Spieler noch verbessern kann – eine unbeantwortbare Frage und eine kleinliche obendrein.
Die Polgárs sind inzwischen ein internationaler Clan. Die drei Schwestern sind keine aktiven Profis mehr, aber ihr Leben dreht sich noch immer um Schach: Judit und Sofia arbeiten in einer Stiftung, die sich für die Förderung des Schachspiels an Schulen engagiert, Susan hat ihr amerikanisches Imperium. László hat eine neue Form von Schach entwickelt, das auf einem sternförmigen Brett gespielt wird. Und in Budapest wurde ein Polgár-Museum eröffnet. Vielleicht erscheint auch irgendwann Lászlós Buch auf Englisch, nachdem er seinen Traum von einem sechsstelligen Vorschuss aufgegeben hat. Er und Klára verbringen den Winter inzwischen in Florida, in diesem Jahr wollen sie sich erstmals mit Ericsson treffen.
Wenn es tatsächlich zu einer Begegnung kommt, dürfte es um eine andere interessante Frage gehen: Wie erklären sich die unterschiedlichen Leistungen der drei Schwestern? Wie konnte Judit, sieben Jahre jünger als Susan, ihre Schwester übertreffen, obwohl sie viel weniger Praxis hatte? Alle drei haben natürlich mehr als jeder andere geübt. Die Polgárs haben ihre eigenen Theorien. Sofia wurde zwar oft als die Talentierteste der drei Schwestern bezeichnet, im Schach und auch sonst (bei einem legendären Turnier in Rom 1989 besiegte sie eine ganze Reihe von sowjetischen Grossmeistern), aber sie hatte nie den Antrieb, sich voll auf eine Sache zu konzentrieren, sagt Susan.
Warum wurde die Jüngste die Beste?
Judit dagegen hatte diesen Killerinstinkt. «Von uns dreien war ich am besten geeignet für das Leben, das ein Topspieler führen muss», sagt sie. Niederlagen spornten sie an. «Ich hatte den unbedingten Willen, allen zu zeigen, dass es möglich war und dass ich es schaffe.» Judits Motivation oder Talent waren vielleicht genetisch bedingt. Aber es sind noch andere Dinge denkbar, sagt Ericsson. Susan hatte stärker mit gesellschaft-lichen Hindernissen zu kämpfen, während Judit schon früh Zugang zu den besten Trainern und einem meisterlichen Schachspieler hatte – ihrer eigenen Schwester. Vielleicht haben die Eltern ihre Trainingsmethoden verbessert. Vielleicht gibt es auch überhaupt keine Erklärung.
Das Experiment der Polgárs, wie immer ihr Erfolg begründet sein mag, wird nur diese eine Generation dauern. Keine der Schwestern hat ihre Kinder so erzogen, wie sie selbst erzogen wurde. Ihre Kinder gehen zur Schule. Sofia war es zwar wichtig, dass ihre beiden Söhne Schach lernen, weil man dabei wichtige Dinge für das Leben lernt – Entscheidungen unter Druck zu treffen, sich durch Nachdenken nicht lähmen zu lassen. Aber ihre Kinder mussten keine Meisterschachspieler werden. Und schliesslich verloren die beiden das Interesse. Sie drängte sie nicht.
«Ich will doch auch was vom Leben haben», sagt sie. «Für meine Eltern ging es nur um das eine.» Manchmal fragt sie sich, was es bedeuten würde, wenn ihr Vater recht hat: wenn diese Art Erziehung tatsächlich auf jedem Gebiet funktionieren würde. «Manchmal bedaure ich, dass es nicht etwas anderes war», sagt sie. «Es wäre besser gewesen, ein Aids-Medikament oder ein Mittel gegen Krebs zu entdecken, statt einfach nur gut Schach spielen zu können.»
Die Polgárs waren ehrgeizig. Die Polgárs waren talentiert. Die Polgárs hatten Glück. Jede dieser Aussagen ist richtig. Was aber für Könnerschaft ausschlaggebend ist, steht wissenschaftlich noch immer nicht zweifelsfrei fest. Allerdings können wir aus der Geschichte der Polgárs lernen. Natürlich stösst auch Talent an Grenzen, aber sie sind verborgen. Man muss grosse Träume haben. Man muss üben. Man muss seine Grenzen erkennen. Und man sollte sein Leben nicht auf Erfolg ausrichten.
«The Chronicle of Higher Education» https://www.dasmagazin.ch
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